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Leseprobe
Erasmus zählte die Bäume auf dem Weg zur Bushaltestelle, während er penibel darauf achtete, nur auf die hochkant liegenden Pflastersteine zu treten und keine Linie mit dem Fuß zu kreuzen. 21 Linden. Wie jeden Tag. Irgendwann würde er einmal andere, exotische Bäume sehen auf seinem Weg wohin auch immer. Palmen vielleicht auf dem Weg zu einem entlegenen Strand. Oder Pinien … Irgendwann einmal.
Vor einigen Jahren hatte er damit begonnen, eine gute Stunde früher ins Büro zu fahren, um den vollen Pendlerbussen zu entgehen. Er hasste es, wenn sein Anzug nach der nicht einmal zwanzigminütigen Fahrt schon verschwitzt und zerknittert war.
Erasmus legte die Aktentasche auf ihren Platz auf dem Rollcontainer neben seinem Schreibtisch und nahm seine Armbanduhr ab. Er legte sie genau an die Ecke der ledernen Schreibischunterlage, parallel dazu den Bleistift, den er am Vortag nach getaner Arbeit frisch gespitzt und in die penibel geordnete Schublade gelegt hatte – wie jeden Tag. Erasmus entnahm der Schublade noch eine braune Papiermappe mit dem Akt, den er heute zu bearbeiten hatte. Dann holte er sich einen Kaffee aus der nächstgelegenen Kaffeeküche. 07:05 Uhr. Sacre Bleu – er war drei Minuten später dran als sonst!
Als er wieder bei seinem Platz ankam, stellte er die Kaffeetasse neben Bleistift und Uhr genau neben die Schreibtischunterlage und arrangierte den Henkel parallel zu beiden. Schließlich setzte er sich. Er starrte einen Moment auf die braune Mappe vor sich, dann streckte er die Arme vor, raffte die Ärmel seines Jacketts ein Stück nach oben und schlug schließlich die Mappe auf. Er arbeitete sich konzentriert durch den Akt, bis ihn ein Kollege auf die Schulter klopfte …
Erasmus hörte die Worte seines Teamleiters in seinem Kopf nachklingen. „Es ist mir egal, was nach der Abteilungsauflösung aus Ihnen wird. Sie sind doch ohnehin glücklich damit, staubige Akten abzuarbeiten …“ Erasmus schluckte. Missmutig ließ er sich auf den Schreibtischstuhl fallen und stützte sich auf die Unterarme. Das Jackett spannte über dem gebeugten Rücken und Erasmus’ leerer Blick haftete auf der braunen Mappe, die ordentlich ausgerichtet und geschlossen auf dem Tisch vor ihm lag.
Er wusste nicht, wie lange er so dort gesessen hatte. Draußen war die Sonne bereits hinter den Bäumen verschwunden. Er starrte noch immer unbewegt auf die Mappe, doch er hörte, wie seine Kollegen hinter im redeten, als wäre er nicht einmal mehr da. Dass er ein Eigenbrötler wäre. Und unkollegial. Unkommunikativ und alles, was er mache zwar penibel und garantiert fehlerfrei sei, aber das wären ja auch nur die Routineaufgaben.
Erasmus streckte seine rechte Hand nach der Kaffeetasse aus, berührte mit der Spitze des ausgestreckten Zeigefingers in Zeitlupe den Henkel der Tasse und drückte dagegen, bis sie sich in Bewegung setzte. Er schob noch ein wenig mehr und ließ von dem kalten Gefäß ab, als der Henkel im spitzen Winkel zu seiner Armbanduhr stand. Wortlos starrte er auf das völlige Chaos vor ihm.
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#Wien #Krimi #Kurzgeschichte #Anthologie