Leer
Mathilda lebt mit ihrer Mutter in einer heruntergekommenen Wohnung im Londoner East End. Die Mutter versucht, ihr ein möglichst normales Leben zu geben, was mit dem gewalttätigen Vermieter und ihrer Arbeit als Prostituierte nicht einfach ist. Nach dem Tod von der Mutter rutscht das Mädchen tief in das schlechte Leben zwischen Huren und Lodging Häusern hinein.
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Leseprobe
London, 1892.
Mathilda kauerte auf dem staubigen Boden und hielt schon seit Stunden die Hand ihrer Mutter. Sie war kalt und schlaff. Mathilda kniff die Augen zu, um die rotbraune Kruste auszusperren, die das Hemd der Mutter und ihr Bett verklebte. Irgendwann kurz vor Mitternacht hatte sie wieder einen Hustenanfall gehabt, hatte sich aufgebäumt und dann war ein Schwall Blut aus ihrem Mund auf das schmutzige Hemd und das verschmierte Laken gequollen. Mathilda war von ihrem Lager in der Ecke der kleinen Kammer aufgesprungen, doch da war dieses Geräusch – dieses furchtbare Gurgeln. Sie sah das Blut und das Gurgeln übertönte alles andere. Und dann war nur noch Stille. So still es nachts in der Stadt nun einmal war. An den Häuserecken und in den Hinterhöfen waren zwischen Schutt und verfaulenden Abfällen die Huren mit Männern zugange, denen sie das Geld für eine warme Nacht in einem der Lodging Häuser abnehmen konnten. Mehr wollte Keine als ein sicheres Dach über dem Kopf. Mehr hatte auch Mathildas Mutter nicht gewollt für die Tochter und für sich, als sie tat, was sie tun musste, um an das winzige Zimmer zu gelangen. Mathilda hatte nicht geschlafen, nie geschlafen, als Er des nächtens kam, um die Miete und mehr einzufordern. Sie hatte mit dem Gesicht zur Wand gelegen und versucht, die Angst nicht zu zeigen, die sie vor dem grobschlächtigen Mann empfand. Sie hatte gewartet, dass es vorbeiging.
Mathilda wartete auch jetzt. Darauf, dass ihre Mutter endlich die Augen öffnen würde. Sie hatte seit dem schrecklichen Blutschwall nicht mehr gehustet – es musste ihr doch besser gehen. Mathilda hatte ihre eigene, löchrige und rußbefleckte Decke noch über sie gelegt, die Mutter musste schrecklich frieren – Ihre Hand wurde immer nur kälter und kälter. Mathildas Magen knurrte laut – doch auch davon wurde die Mutter nicht wach. Das Mädchen zwang sich, die Augen zu öffnen, schaute aber zur Seite und durch die schiefen Fensterläden sah sie das schummrige Septemberlicht, das in der schmalen Gasse zwischen den hohen Häusern den helllichten Tag verkündete. Wie lange mochte sie schon hier gesessen haben? Wie lange schlief die Mutter denn schon? Sonst stand sie doch immer im Morgengrauen auf und richtete Mathilda und sich das Frühstück – einen Kanten Brot und etwas Tee, den sie mehrere Tage immer wieder aufgoss, bis der Sud der nassen Blätter irgendwann schimmlig schmeckte.
Mathilda schloss die Augen wieder, drehte den Kopf an der Mutter vorbei und öffnete sie mit dem Blick auf das trockene Brot auf dem Sims über dem Kohleofen, der Mathilda gerade einmal bis zur Hüfte reichte. Durch die rostgesäumten Löcher am unteren Rand sah sie die wenigen unverbrannten Kohlstückchen. Oben auf dem Ofen stand ein verbeulter Kessel. Ein stumpfes Messer lag dort und ein Brett mit einem langen Riss darin. Daneben ein Becher, ein angeschlagener Teller und ein Löffel in einer alten Waschschüssel. Mehr gab es nicht. Der Blick schweifte zur Bettstatt, wo neben dem mottenzerfressenen Lager eine kleine Stiege mit ihren wenigen Habseligkeiten stand. Ein Kamm war darin, dem bereits einige Zinken fehlten und mit dem die Mutter ihr sonntags das Haar auskämmte. Zwei kleine Fläschchen mit Hustensaft und Schmerzmittel, ein paar schmutzige Leinenstreifen. Der zweite Kittel ihrer Mutter lag zusammengerollt am Boden.
Wieder mit geschlossenen Augen wandte Mathilda den Blick zu ihrem eigenen Lager, von dem nur noch die Binsenmatte übrig war, nachdem sie ihre Decke der Mutter übergelegt hatte. Sie hatte nichts weiter. Mathilda schloss die Augen wieder und senkte den Kopf. Sie klammerte sich an die kalte Hand, die seltsam steif in der ihren hing. Sie biss sich auf die Lippe und schluckte, dann rannen heiße Tränen über ihre Wangen.
Die Tür krachte unter wuchtigen Schlägen und Mathilda schreckte hoch. Sie verschluckte sich an ihren Tränen und musste husten.
„Aufmachen!“, dröhnte eine raue Stimme durch das klapprige Holz. Mathilda kauerte sich zusammen, klammerte sich fester an die Hand.
„Sofort aufmachen, du Schlampe!“
Sie erkannte die Stimme und wäre am liebsten im Boden verschwunden. Sie würde sich wieder in ihre Ecke legen, würde warten, bis Er wieder fort war …
Die Schläge gegen die Tür wurden heftiger. Das Mädchen versteckte das Gesicht hinter den Armen und wimmerte, doch das hielt die Tür beim nächsten Schlag nicht in den Angeln. Mathilda entfuhr ein erstickter Schrei, als Er mit zwei Schritten durch die Tür war und direkt vor ihr stehen blieb.
„Was ist, Mädchen? Verschwinde schon. Die Schlampe hat zu tun.“ Er grinste breit und spuckte vor Mathilda auf den Boden. „Na los!“ Mit dem Fuß schob er sie zur Seite, doch Mathilda ließ die Hand nicht los.
Der Mann starrte auf sie herab, eine steile Falte erschien zwischen den Augen, sodass er noch gemeiner aussah als üblich. Mathilda versuchte, sich noch kleiner zu machen.
Der Mann griff über sie hinweg zur Decke und hob sie an. Sein Blick wandelte sich von zornig zu angeekelt.
„Scheiße, die ist ja tot! Was hast du gemacht, du dreckiges Miststück?“
Mathilda verschluckte sich erneut und die Worte hallten in ihren Ohren. Während der Mann die Decken ganz herunter nahm, sie angewidert in die Ecke warf, weinte Mathilda lauter und lauter, um die Geräusche auszublenden, bis sie von einer schallenden Ohrfeige direkt an die Wand geschleudert wurde. Die Hand der Mutter war ihr entglitten und sie schmeckte das eigene Blut, das aus der aufgeplatzten Lippe lief. Über ihr hing der Schatten des Mannes wie Damokles’ Schwert.
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