Coffee Leaks
Beitrag in der Anthologie „Kaffee. Mokka. Tot.“ – Köstlich, heiß – tödlich. Kaffee: das Kultgetränk unserer Zeit, beliebtes und begehrtes Genussmittel – für das manche sogar morden würden. Neunzehn Krimiautorinnen und -autoren folgen seinen mörderischen Spuren nach Südamerika und Indien, auf Plantagen, in Wiener Kaffeehäuser, auf orientalische Basare bis zur heimischen Kaffeetafel. Erfahren Sie, welch dunkles Geheimnis Beethovens Kaffeemaschine hatte und wann eine Melange oder ein Caffè Crema tödlich sein kann.
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Leseprobe
Sie rannte. Am Ende des Parks hatte sie einige Sekunden Vorsprung und bog in die Nebenstraße ein. Als sie auf einen heruntergefallenen Tannenzapfen trat, knickte sie um und fiel der Länge nach hin. Die Strumpfhosen zerrissen an den Knien, Blut sickerte hindurch. Sie rappelte sich auf. Dreck hing an ihrem senfgelben Mantel, kleine Schottersteine steckten in ihren aufgeschürften Handballen, aber sie hatte keine Zeit, sich darum zu kümmern. Fünf Querstraßen weiter war die Bushaltestelle. Mit Glück kam gleich ein Bus, und sie konnte es schaffen. Sie sprintete weiter. Als sie keuchend die Ecke erreichte, sah sie nur noch zwei Rücklichter und die Anzeige: Nächster Bus in acht Minuten.
Vier Tage zuvor.
Es war früh, fast anderthalb Stunden früher als sonst. Nur die Putzfrau und ein Kollege waren schon da. Ellen nickte ihnen zu. Zu müde für verbale Kommunikation. Sie legte Tasche, Schal und Mantel auf den Tisch und drückte den Einschalter ihres Firmenlaptops an der Dockingstation auf dem Schreibtisch. Ohne abzuwarten, ging sie in die Kaffeeküche. Sie nahm eine Tasse aus dem Regal. Seit ein paar Wochen gab es eine neue Kaffeemaschine, mit der sie sich noch nicht wirklich beschäftigt hatte. Sie drückte immer nur den Knopf für Milchkaffee. Aber das Menü war heute von etwas anderem verdeckt – irgendwas mit »Softwareupdate«, und zur Auswahl standen »Update« oder »Abbrechen«. Abbrechen. Sie wollte einfach nur Kaffee.
Zurück an ihrem Platz, war der Rechner bereits hochgefahren. Sie gab ihr Benutzerkennwort ein, und während die üblichen Programme starteten, hängte sie Mantel und Schal ordentlich an die Garderobe. Dann trank sie erst einmal ihren Kaffee, ehe sie an der Kalkulation weiterarbeitete, die heute unbedingt fertig werden musste. Die Firma strebte einen »Merger« mit einem anderen Unternehmen an, da waren die Zahlen das Um und Auf. Und sie würde eine Weile brauchen, um alles entsprechend vorzubereiten.
Die Kolleg:innen trudelten anderthalb Stunden später ein. Auch Martha, die mit Ellen gemeinsam an den Merger-Dokumenten arbeitete.
»Lieber Himmel, seit wann bist du denn schon hier?«
»Sechs Uhr dreißig«, antwortete Ellen und atmete in die Kaffeetasse. Sie hatte ganz schön was geschafft in der Zeit, weil es ruhig gewesen war und niemand sie störte.
»Wir hätten das auch gemeinsam machen können«, sagte Martha tadelnd und verschwand in Richtung Kaffeeküche.
Ja, hätten sie. Aber dann wären sie bis heute Abend sicher nicht fertig geworden. Und schon wieder bis nach zehn hier zu sitzen, darauf hatte Ellen wirklich keine Lust. Sie hatte Besseres vor. Und das hieß Christian.
Martha kam aus der Kaffeeküche zurück. Sie balancierte ein hohes Glas mit einer enormen Haube aus Milchschaum obenauf vor sich her.
»Wo hast du denn den Kaffee mit so viel Milchschaum her?«
»Aus der Küche.«
»Aus der hier bei uns auf dem Stockwerk?«
»Ja sicher. Wenn man die App verwendet, dann macht die Maschine auch ganz tolle Dinge.«
»Was für eine App?«
Martha stellte das Glas auf dem Tisch ab und zog ihr Mobiltelefon aus der Tasche ihrer Jeans. Sie zeigte Ellen das Icon auf dem Bildschirm. »Diese da.«
Ellen durchforstete sogleich den App-Store auf ihrem Gerät und wurde unter dem Namen des Maschinenherstellers tatsächlich fündig. Dreißig Sekunden später öffnete sie die App und scrollte durch die Kaffeevariationen.
»Wow, da kann man sogar eigene Kreationen anlegen!«
»Ja klar. Was meinst du, wie ich zu meiner Extraportion Milchschaum komme?«
»Genial, das will ich auch.«
»Bevor du dir von hier aus den Kaffee klickst, solltest du aber sichergehen, dass in der Küche eine Tasse in der Maschine steht. Ich hatte schon mal Pech und durfte eine Viertelstunde lang alles wieder sauberwischen.«
»Was? Ich kann von hier aus die Kaffeemaschine starten?«
»Ja. Mach einfach die App auf und verbinde dich übers Büro-WLAN mit der Maschine. Dann kannst du direkt loslegen.« Martha grinste.
»Sollten im Büro-WLAN nicht nur die Laptops und Drucker drin sein?«
Martha verdrehte die Augen. »Ja, ja. Muss man den Typen aus der IT ja nicht stecken.«
Ellen zuckte mit den Schultern. »Na dann.«
Als sie zehn Minuten später mit einer enormen Tasse Latte Macchiato mit einer Menge Milchschaum und Kakaopulver darauf wiederkam, lachte Martha laut.
»Was?«, meinte Ellen. »Bei allem, was wir für diesen Zusammenschluss tun, können wir es uns auch mal gut gehen lassen.« Sie rührte vorsichtig in der Tasse. »Vielleicht wird es ja doch noch ein guter Tag.«
Tatsächlich wurde es das, und auch die Kalkulation hatte nach nur sechsmal Nachbessern den Stand, der dem Chef vorschwebte.
Zu Hause machte Ellen es sich mit ihrem Essen vor dem Fernseher gemütlich. Ihr Smartphone funktionierte als Fernbedienung, und sie probierte drei verschiedene Streamingdienste, bis sie etwas gefunden hatte, das sie sehen wollte. Die Fernbedienungs-App wollte ein Update installieren; die Meldung dazu hatte ein paar Zeilen Text, Ellen aber keine Lust, sie zu lesen. Darum klickte sie einfach auf »Ja« und legte das Telefon zur Seite.
Irgendwo in der dritten Folge der angefangenen Staffel schlief sie vor dem Fernseher ein.
Der nächste Morgen begann mit einer schlechten Nachricht. Ellens Mutter war in der Nacht ins Krankenhaus gekommen. Sie erfuhr es von ihrem Bruder über die Familiengruppe im Messenger. Ein kleiner Schlaganfall, nichts Lebensbedrohendes.
Im Büro stand sie leicht neben sich, war fahrig. Einmal erwischte sie sogar versehentlich entkoffeinierten Kaffee, als sie auf ihrem Smartphone die Konfiguration von Milchkaffee à la Ellen eingab. Sie kippte die entkoffeinierte Brühe weg und besserte den unter »eigene Kreationen« gespeicherten Fehler aus.
Es war fast Feierabend, als Ellens Telefon vibrierte. In Erwartung weiterer schlechter Nachrichten zog sie es ruckartig aus der Hosentasche. Doch es war bloß eine Messenger-Nachricht von Christian: Hey, wollen wir was Essen gehen?
An einem normalen Tag hätte Ellen sofort Ja gesagt. Das war es heute aber nicht. Sie tippte mit einer Hand, während sie ihre Tasse in die Küche zurückbrachte.
Lieber nicht. Keine gute Idee heute.
Was ist los? Abrechnung nicht fertig geworden?
Stimmt, sie hatte ihm gestern gar nicht mehr geschrieben, dass sie alles geschafft hatten, weil sie auf dem Sofa eingeschlafen war.
Doch, gestern schon.
Aha.
Ellen hörte beinahe seinen verletzten Tonfall. Verflixt.
Ich mache gerade Feierabend. Wenn du magst, kannst du noch vorbeikommen. Dann erzähle ich dir alles.
Okay.
Der Tag begann mit neuen Experimenten in der Kaffeeküche. Ellen arbeitete sich nach und nach durch die Einstellungen der App und schaffte es heute, einen für Büro-Kaffee perfekten Cappuccino zusammenzubekommen.
»Wow!« Martha schaute bewundernd auf Ellens hohes Kaffeeglas, das diese sich, weil mehr hineinpasste, auf dem Weg nach oben extra aus der Kantine geholt hatte.
»Möchtest du auch? Ich hab vorhin gesehen, dass man die eigenen Kreationen auch teilen kann.«
»Oh ja.«
Ellen öffnete die App, suchte ihren »perfekten Büroccino« aus der Liste der gespeicherten Kaffeespezialitäten und drückte auf die Schaltfläche »Kreation teilen«. Sekunden später machte es »Pling«, und Martha stand auf und eilte in Richtung Kaffeeküche davon. Als sie eine Viertelstunde später ohne Kaffee wiederkam, sah Ellen ihr an, dass etwas nicht stimmte.
»Was ist los?«
»Die Presse ist da und eine ganze Menge wichtig aussehender Leute. Jede Wette die gehören zum Management der Firma, mit der wir zusammengelegt werden sollen.«
»War zu erwarten, dass es Rummel geben würde.«
Just in diesem Moment schwang die Tür zum Großraumbüro auf, und die Prozession spazierte herein, angeführt vom Chef persönlich.
»Hier sind wir im Controlling, weiter vorn sitzen die Mitarbeiter der HR«, erklärte er.
»Können wir das Foto von Ihnen und Herrn Marbach gleich hier machen? Der große Gummibaum dort würde sich als Hintergrund anbieten. Und hier oben ist es schön hell«, sagte einer der Journalisten. Mehrere andere zückten reflexartig ihre Kameras.
Ellen kannte den Namen Marbach aus einigen Dokumenten, die sie im Zuge der Vorbereitungen für den Zusammenschluss eingesehen hatte. Er war der CEO der Firma, mit der ihre fusionieren sollte. Marbach und ihr Chef positionierten sich vor dem Gummibaum, und alle Kameras richteten sich auf sie.
Ellen und Martha sprangen rasch zur Seite, um nicht im Bild zu sitzen. Ellen hoffte, dass es weit genug war. Sie hasste Fotos von sich.
Der Spuk dauerte ganze dreieinhalb Minuten, dann zog der Tross aus Journalisten und Angestellten inklusive der beiden CEOs in Richtung HR-Abteilung davon.
Ellen ließ sich auf ihren Drehstuhl fallen. Martha verschwand ohne ein Wort und kehrte wenige Minuten später mit zwei Tassen zurück, die von enormen Milchhauben gekrönt wurden. Sie drückte Ellen eine davon in die Hand. »Hier. Das haben wir uns verdient, Miss Merger-Queen.« Sie sank in den Bürostuhl neben Ellen.
Die beiden Frauen sahen einander an, und langsam kroch ein Grinsen in Marthas Gesicht. Auch Ellen grinste und hob die Tasse: »Auf uns.«
»Auf uns.«
Sie stießen an, und der Milchschaum über den Tassen verband sich zu einer großen Doppel-Haube. Ellen zog mit der freien Hand ihr Telefon aus der Tasche und machte ein Foto davon. Dann prosteten sie einander noch einmal zu und tranken.
Gemessen am Stress der letzten Wochen verlief der nächste Tag echt entspannt. Martha hatte sich heute freigenommen. Und das Beste war, Ellen hatte endlich wieder Zeit, ihre Abende mit Christian zu verbringen. Laut ihrem Bruder ging es der Mutter auch schon besser; sie war wieder zu Hause. Zudem lösten die Presseberichte, die heute in mehreren lokalen und sogar zwei überregionalen Blättern waren, eine fröhliche Stimmung bei der der gesamten Belegschaft aus. Nach dem Zusammenschluss sollten alle Arbeitsplätze erhalten bleiben. Ellen ließ für einen Moment den Blick aus dem Bürofenster und über die Dächer der Stadt schweifen. Ja, es ging ihr richtig gut.
Ihr Smartphone vibrierte. Sie griff danach und öffnete die eingegangene Nachricht. Eine SMS, allerdings ohne Absendernamen und Nummer.
hübsches foto, merger-queen
Ellen schüttelte den Kopf. Martha hatte manchmal einen sehr merkwürdigen Humor.
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#Hacker #Malware #SciFi #Trojaner